Kein Quark!


Leinöl? ...das war doch das, was meine Oma mit Quark verrührte, beim Essen verzückt die Augen verdrehte und sich davon Wunder versprach! Was soll denn das, bitte, mit meinem Schiff zu tun haben? - O.k., provozieren ist das eine, aufklären das andere. Jens Burmester tut's:


Beim Symposium 2016 des Freundeskreises in Hamburg war die Behandlung von Oberflächen eines der beiden Themen, deren Behandlung wohl die meisten Zuhörer und Diskutanten angelockt hatte. Das Aussehen einer gepflegten Yacht, der Pflegezustand ihres Rumpfes und seiner Einrichtung, ist neben dem seemännischen Auftritt beim Einlaufen in einen Hafen ja die wichtigste, die offensichtlichste Visitenkarte des Schiffes und seiner/s Eignerin oder Eigners.
Dies wissend und beileibe nicht nur aus der Verantwortung gegenüber der Erhaltenswürdigkeit unserer hölzernen Lieblinge haben die Lack- und Farbenhersteller tausenderlei Pflege- und Schutzmittel entwickelt, fast so viele wie Kosmetika für in erster Linie "ihren" Auftritt in der Öffentlichkeit oder auch nur vor dem Badezimmerspiegel. Daraus lässt sich zweifellos ein prächtiges Geschäft machen. Motto: "Das gibt's doch was von Inter-höve-hemp-ifanes!"

Dabei gab und gibt es doch auch Methoden, die sich jahrhundertelang entwickelt und durchaus bewährt hatten. Worum geht es?
Wir wollen das Naturmaterial Holz gegen Verrotten und Fäulnis schützen. Holz, das von Natur aus dafür "konstruiert" ist, Wasser aufzunehmen und von den Wurzeln im Boden zu den Verbrauchern in der Baumkrone zu leiten. Eine Struktur mit einer riesigen Oberfläche, durchzogen von Poren und Kapillaren soll also wirksam gegen eine seiner wichtigsten natürlichen Bestimmungen geschützt werden. Kein leichter Job. Aber bei (wörtlich) näherer Betrachtung eben doch auch mit ebenso natürlichen Mitteln durchaus machbar.
Denn wenn die Natur uns schon mit dem wunderschönen und, unter bestimmten Kriterien betrachtet, hervorragenden Baustoff versorgt, tut sie das auch mit einem Produkt, das wie maßgeschneidert für diese anspruchsvolle Aufgabe erscheint. Es fängt schon damit an, dass Leinöl nur ein Produkt einer Pflanze ist, ein zweites der selben Pflanze ist gerade für die frühe Seefahrt mindestens ebenso wichtig gewesen: Flachs, gewonnen aus den Stielen des gemeinen Leins, wie die Pflanze offiziell heißt. Eine der ältesten und früher verbreitetsten Nutz-Pflanzen überhaupt: Rohstoff für Kleidung, Seile, Planen und Persennige, Nahrungsmittel mit überzeugenden Eigenschaften, und Konservierungsmittel für Holz und Textilfasern aller Art. Zum Überfluss kann damit auch noch leuchten und heizen, wenn man es entzündet. Wir wollen hier aber das Konservieren und Beschichten von Holz betrachten.

Die Hauptschwierigkeit der Aufgabe klang oben schon an: Die Kapillaren und Poren im Holz. Wie kommt man an die heran? Klare Antwort: Wir gar nicht - das Wasser schon.
Aber eben auch Leinöl. Das kann es aufgrund seiner Oberflächenspannung und letztlich vermutlich auch wegen seiner Molekularstruktur ganz hervorragend, besser sogar als Wasser! Eine Eigenschaft sollten die fast unvorstellbar kleinen Hohlräume, die es zu füllen gilt, allerdings aufweisen: Sie sollten leer sein. Das bedeutet, dass das Holz möglichst wenig freies Wasser enthalten, also "trocken" sein muss. Nur dann kann das Leinöl dank seiner anschmiegsamen Moleküle die großen Oberflächen im Inneren des Holzes auch erreichen. Dabei spielt der Faktor Zeit allerdings eine große Rolle, denn der Benetzungsprozess spielt sich langsam ab. Die Moleküle bewegen sich, so lange das Leinöl noch nicht vernetzt ist, und im Zuge dieser Bewegungen dringt das Öl eben in immer neue Poren vor. Warum das Öl das so viel besser kann als Wasser, bleibt für mich allerdings im Bereich der Spekulation, fest steht jedoch das Resultat: Leinöl dringt so tief in die Holzstruktur ein wie kein anderer Stoff, deutlich tiefer als zum Beispiel Alkydharze oder gar leichtflüchtige Verdünner, die aufgrund ihres höheren Dampfdrucks vermutlich schnellere Molekülbewegungen aufweisen und möglicherweise schlicht die Poren nicht finden. Man kann sich das so vorstellen, als führen

"Spray"

diese Moleküle auf der verzweifelten Suche nach einem Parkplatz viel zu schnell durch eine enge, unübersichtliche Straße. Das klappt nämlich auch nicht, wie jeder weiß.
Hat das Leinöl aber seinen Platz eingenommen, so das ganz einfache Prinzip, kann Wasser dort nicht mehr hin. Das Leinöl hat nämlich zwei Eigenschaften, die es erneut anstehendem Wasser schwer machen: Leinöl reagiert mit dem Sauerstoff, der sich in den Hohlräumen des Holzes befindet, sehr langsam, und bildet bei diesem Oxidationsprozess ein Polymer, einen neuen Stoff, der andere physikalische Eigenschaften hat. Polymerisiertes Leinöl ist nicht mehr so dünnflüssig, grob gesagt ist es sogar ein festes Material, ein Polymer eben, das zwar keine Kristalle bildet, aber nicht mehr fließfähig

Der dänische Kutter "Saxon" als Beispiel für gelungene Pflege mit Leinölfarben
Der geschliffene und mehrfach mit Leinölspachtel bearbeitete Rumpf

ist. Und damit auch nur noch extrem schwer aus der Struktur des Holzes zu vertreiben wäre - der Parkplatz, um im Bild zu bleiben, ist besetzt.

Bei der Oxidation reagieren die ungesättigten Fettsäuren des Leinöls mit Sauerstoff und bilden Moleküle, die durch ihre Struktur dafür sorgen, dass das Volumen im Zuge der Reaktion zu- nimmt. Das ist eine ganz außerordentlich nützliche, das Leinöl von anderen Harzen grundlegend unterscheidende Eigenschaft, denn die Volumenzunahme bedeutet, dass eine Schicht aus Leinöl nicht dünner wird, weil dort ein Verdünner verdunstet und das Material schrumpfen lässt, sondern - im Gegenteil - sogar dicker wird, und deshalb nicht reißt. Auf diese Weise entstehen in mit Leinöl getränktem Holz auch keine neue Hohlräume, die dann wieder mit Wasser gefüllt werden könnten. Leider, das soll nicht verschwiegen werden, folgt danach ein wiederum extrem langsam stattfindender Schrumpfungsprozess, der auch mit einer auf die Dauer schädlichen Verspödung einhergeht. Deshalb sind die Pflegeintervalle auch durchaus begrenzt. Dickschichtig aufgebaute Leinölflächen sind nicht angenehm zu schleifen, da das Material unter den höheren Temperaturen, die durch Reibung und Zerspanung beim Schleifen entstehen, weich wird und zum Verschmieren neigt. Da hilft es sehr, wenn man bei niedrigen Temperaturen mit der Klinge vorarbeitet.

Die für eine Aushärtung notwendige Reaktion von Leinöl mit Sauerstoff verläuft sehr, sehr langsam. Das macht reines Leinöl zu einem eher unattraktiven Partner zur äußeren Beschichtung von Holz und anderen Oberflächen, da die "Trocknung" (es ist ja keine Trocknung, sondern eine Oxidation, aber das wissen wir ja nun schon) sehr viel Zeit in Anspruch nimmt.
Hier hilft nun ein wenig Chemie: Man kann chemische Reaktionen beträchtlich beschleunigen, wenn man Substanzen als Katalysatoren zur Verfügung stellt, in diesem Fall sogenannte Sikkative als Hilfsmittel zum Leinöl beimengt, die schon in sehr geringer Konzentration als Katalysa-

Leinöl als Holzbeschichtung mit Farbproben verschiedener Pigmente

toren äußerst wirksam sein können, und ihre Wirkung ist frappierend. Sozusagen schlagartig wird aus der sehr schleppend verlaufenden Oxidation ein Prozess, der nur noch wenige Stunden dauert und sich sogar steuern lässt. Durch die Wahl des richtigen Katalysators, sprich Sikkativs, kann man dem Leinölprodukt gewisse Eigenschaften mitgeben, ganz nach dem Verwendungszweck. Das wurde schon vor mehreren Jahrhunderten entdeckt, und da man seinerzeit eher durch Fehler lernte, haben viele Experimente keinen guten Ausgang genommen. Heute weiß man recht gut über die Wirkung der Stoffe bescheid.

Eine wichtige Eigenschaft ist unbedingt noch zu erwähnen: Leinöl und leinölbasierte Lackprodukte haben eine Eigenschaft, die von den wenigsten künstlichen Produkten erreicht wird: Bilden sie eine Schicht auf der Oberfläche, kann kein Wasser in flüssiger Form (von außen nach innen) durchdringen, Wasser als Dampf, also gasförmig, von innen nach außen schon. Das bedeutet, dass sich unter einer geschlossenen Schicht keine feuchten Bereiche bilden und halten können, was ein kaum zu überschätzender Vorteil für die Erhaltung von Holz ist. Die Holzfeuchte innen wird nie höher sein als die durchschnittliche Luftfeuchtigkeit außen, das Holz wird dadurch auch vor Fäulnis geschützt. Außerdem sind die Sikkative in der Regel ausgesprochen toxische Stoffe, sodass von ihnen auch in geringster Konzentration eine Schutzwirkung gegen Mikroben ausgeht.

Leinöl in Holz unter dem Elektronenmikroskop

Man entdeckte, dass die Art der Gewinnung des Öls aus den Samenkernen und die Weiterverarbeitung enorm großen Einfluss auf die Verwendbarkeit hat. Deshalb ist es auch heute noch nicht einerlei, welches Leinöl man für sein Schiff nimmt.
Das beste Leinöl wird durch Kaltpressen aus den Kernen getrieben, es enthält den höchsten Anteil an ungesättigten Fettsäuren, dem für unsere Zwecke wichtigsten Bestandteil. Es eignet sich zum Beispiel in rohem Zustand sehr gut zum Tränken von Holz, aber ist auch die beste Basis für die Gewinnung von Leinöl-Lack (in Verbindung mit Holzölen) und -Farben (unter Zusatz von Pigmenten).
Nicht so gut ist Leinöl, das unter Erwärmung aus den Kernen gepresst wird, was zwar den Ertrag erhöht, aber auch den Anteil unerwünschter Verunreinigungen ansteigen lässt.
Für unsere Anwendungen nicht zu verwenden ist Leinöl, das mit Hilfe chemischer Prozesse aus den Kernen herausgewaschen wird. Das liegt unter anderem, dass dabei auch Stoffe herausgelöst werden, die das Leinöl in seiner Qualität merklich mindern. Für die Haltbarkeit und die Wasserverträglichkeit von Leinöl und Leinölprodukten ganz entscheidend ist die thermische Nachbehandlung durch ein- oder mehrmaliges Kochen mit und ohne Sauerstoffzufuhr oder unter Vakuum.

Dass man das Leinöl durch verschiedenartigste Zusätze ausgesprochen weit an den Bedarf anpassen kann, haben wir schon erwähnt. Hinzu kommt nun eine ganz wichtige Einsatzmöglichkeit: Leinöl als Bindemittel für Pigmente, um daraus abdichtende Farben und Spachtel herzustellen. Auch das wird schon seit dem Altertum praktiziert, sodass der Menschheit eine gewisse Erfahrung unterstellt werden kann.
Als Pigmente kommen eine Unzahl verschiedenster Stoffe in Frage, angefangen von Kreide und fein gesiebten Erden über eine Unzahl mehr oder weniger gesundheitsgefährdender Metallsalze und -oxide sowie gemahlenen Edelsteinen bis hin zu Naturfarbstoffen, aus denen wiederum mit meist

"Saxon" vor dem zweiten Stapellauf

weißen Pigmenten zusammen Farben erzeugt werden können. Prozentual haben vermutlich die bildenden Künstler am meisten unter ihren Experimenten zur Erzeugung neuer Farbtöne gelitten. Auch hier weiß man heute vergleichs- weise gut, was man tun und lassen sollte.
Aus diesem Grund gilt natürlich auch für Leinölfarben, dass sie ebenso umweltschädlich und gesundheitsgefährdend sind wie Alkydharz- oder Polyurethanfarben.

Welche Pigmente für welchen Zweck in welcher Kombination und Konzentration verwendet werden, ist natürlich bei der professionellen, kommerziellen Farbherstellung ein gut gehütetes Geheimnis. Aber es gibt schon einige Hilfestellung, wenn man sich zum Beispiel ein wenig im Internet umsieht. Auch gut sortierte Geschäfte für Künstlerbedarf können hier eine große Hilfe sein - nicht, um dort gleich kiloweise die giftigsten Pülverchen einzukaufen, sondern um sich ein wenig in diese archaische Welt einzufinden. Ein auf Dänisch bereits erhältliches Buch von Simon Bodal Hansen "Et linoliesystem til træbåde", erteilt erschöpfend Auskunft.

Einen Vorteil von Leinöl haben wir noch nicht erwähnt: Man kann aus Leinöl und Sikkativ und Pigmenten sehr schöne eigene Farben herstellen, sich auf diese Weise einerseits in einmaliger Autenthizität dem Erscheinungsbild des eigenen, alten Schiffes wieder annähern, und andererseits die oben beschriebenen Vorteile des Leinöls hinsichtlich der damit verbundenen Schutzwirkung genießen. Die damit ebenso verbundenen Nachteile längerer Überstreichintervalle und etwas geringerer mechanischer Widerstandsfähigkeit der Oberflächen können im privaten Bootspflegesektor durchaus auch Vorteile ausspielen:
Die Verarbeitungstemperaturen liegen durchweg niedriger als bei "modernen" Lackprodukten, was im kalten Frühjahr ein großer Vorteil sein kann. Ein kommerziell denkender Bootsbaubetrieb wird hierfür allerdings kaum zu gewinnen sein, weil es dort begreiflicherweise auf kurze Verarbeitungs- und Aushärtezeiten ankommt:
Farbe drauf und 'raus!

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Für alle, die mehr wissen wollen:

Die Leinöl-Bibel ist gedruckt oder als pdf hier zu bestellen

http://www.forumdfael.dk/forlag/linoliebogen.html

Autor Simon Bordal Hansen