Noch einmal Paradies


Inmitten der Krisen geht der dem FKY wohl bekannte Autor Marc Bielefeld („Wer Meer hat, braucht weniger“) auf seine alte Yacht und kreuzt ein Jahr lang durchs Mittelmeer. Balearen, Sardinien, Korsika, Sizilien, Nordafrika: Das Mare Nostrum erweist sich noch immer als blaues Wunder – aber auch als Schlüsselmeer, in dem sich all die Probleme unserer Zeiten spiegeln. (Foto: Ankerfrieden vor einer Grotte in Sardiniens Süden)


Klimawandel, Artensterben, Luxusyachten, Flüchtlingsboote, Krieg. Neben traumhaftem Segeln geht Marc Bielefeld auch dieser Frage nach: Wie geht es dem Mittelmeer heute wirklich? Und was können wir tun, um es zu bewahren? Ein Auszug aus seinem neuem Buch: „Noch einmal Paradies - ein Segelabenteuer zu den Grenzen unserer Freiheit“ - erschienen am 27. April 2023 im Malik Verlag. 304 Seiten mit 16-seitigem Bildteil. 22 Euro.

Blaues Spektakel - hunderte von Blauflossen-Thunfischen

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Textauszug:

Das Meer lag vor uns, blau und verheißungsvoll wie immer. Doch wäre es naiv gewesen, noch immer an ein unbeflecktes Paradies zu glauben. Alle wussten um die Berichte und Studien, um all die Erzählungen und Hiobsbotschaften, die uns aus sämtlichen Himmelsrichtungen um die Ohren sausten. Klimawandel, Rekordhitzen, Dürren. Das geschundene Meer, der Müll, die Überfischung. Ich konnte die Fakten kaum fassen, kaum realisieren. Sie klangen zu düster.

Und ich fragte mich: Was stimmte am Ende? Was stimmte nicht? Wo stehen die Balearen? Wie geht es dem Mittelmeer? Und was bringen die Bemühungen, um dieses Meer zu bewahren und zugleich unsere Ansprüche nicht begraben zu müssen?

Für eine wahre Antwort musste ich jemand Unabhängigen finden. Die Fischer und die Kellner konnten viel erzählen. Die Tauchschulen wussten in der Regel Bescheid, schließlich begaben sie sich selbst fast jeden Tag da unten ins Meer, doch auch sie würden letztlich nur Fragmentarisches berichten können und die Realität womöglich ebenfalls färben. Die Umweltorganisationen und Naturschutzverbände wiederum würden ihre Geschichten erzählen – und vielleicht auch ihre eigenen Interessen bedienen.

Es war nicht mehr leicht, dem Meer auf die Schliche zu kommen. Ich erinnerte mich an ein Interview, das ich einmal mit einem Ozeanografen geführt hatte. Über Jahrzehnte hatte er die Abteilung Fischereiozeanografie am Institut für Seefischerei in Hamburg geleitet, hatte Forschungsreisen in die Nordsee unternommen, nach Grönland und Spitzbergen. Für verschiedenste wissenschaftliche Erhebungen war er auf Schiffen in den Antarktischen Ozean gefahren, nach Kanada, Neuseeland. Später wurde er Vorsitzender mehrerer wissenschaftlicher Komitees der Nordwestatlantischen Fischerei-Organisation in Halifax. Ein Mann, der vielleicht mehr wüsste. Einen unabhängigen Rat.

Ich fragte ihn, und Dr. Manfred Stein half mir prompt weiter. Name und Telefonnummer kamen wie aus der Pistole geschossen: »Ruf diesen Herrn an, wenn einer weiß, wie es um das Mittelmeer bestellt ist, dann er.«

Der Mann war nicht leicht ans Telefon zu bekommen. Wir mailten. Er habe fast täglich Konferenzen, schrieb er, dann wieder musste er nach Brüssel. Gespräche, Tagungen, Vorträge. Irgendwann erreichte ich ihn, Dr. Josep Lloret, einen Meeresbiologen mit Doktortitel der Biologie, der an der Universität von Girona arbeitet. Er ist Leiter des Instituts für Gewässerökologie, sein Schwerpunkt liegt auf dem Gebiet Oceans and Human Health: das Meer und die menschliche Gesundheit.

Dr. Josep Lloret steht der Forschungsgruppe SeaHealth vor, die sich mit mehreren Themen im Einzelnen befasst: Fischereiökologie, Zustand der Fischpopulationen, globale Veränderungen, Auswirkungen des Klimawandels, Folgen von Sportfischerei und Wassersport auf den Zustand der Meere, hinzu kommt das Gebiet der Aquatischen Biotechnologie. Ich erreichte ihn an einem Freitagnachmittag; mir schwante nichts Gutes.

»Das Mittelmeer«, sagte er. »Wo wollen wir beginnen?«

Funktionierende Meeresschutzgebiete aufzubauen, fing er an, sei eine schwierige Aufgabe. Man bräuchte dafür zunächst einmal Gesetze und klare Regulierungen, die mit verschiedenen Instanzen und Interessengruppen abgestimmt sein müssten. Wissenschaft, Fischerei, Tourismus, lokale Behörden. Danach müssten der Wille und die Mittel vorhanden sein, das Ganze umzusetzen. Dafür wiederum sei es nötig, die Gesetze und Regulierungen zu veröffentlichen und zu kommunizieren. Schließlich müssten die Gebiete kontrolliert und die Maßnahmen auch wirklich durchgesetzt werden. Vielerorts am Mittelmeer, sagte Dr. Lloret, würde es schon am ersten Schritt scheitern. Es gebe keine Gesetze, keinerlei Regeln. Das Meer sei wie Freiwild.

Die Balearen würden gute Arbeit leisten, trotz des enormen Tourismus. Man habe wichtige Schutzgebiete ausgerufen und kommuniziere dies, zudem würden die Balearen viel versuchen, um die menschlichen Aktivitäten zu beobachten, zu kontrollieren, sie notfalls auch zu sanktionieren und zu unterbinden. Der Doktor wartete kurz. Es hörte sich an, als würde er schnell etwas in die Tastatur tippen und nebenbei Papierstapel hin und her schieben. Dann sagte er »Es ist das, was wir ein gutes Management der Schutzgebiete nennen. Man muss dafür allerdings einen Plan haben, einen echten Plan.«

Das alles klang noch sehr bürokratisch. Trocken, abstrakt. Ich fragte konkreter. Das Meer um die Balearen sei in einem akzeptablen Zustand, sagte er, vor allem im Vergleich zu anderen Gebieten. Man habe hier früh begonnen und viel getan. Einige Bestände würden sich erholen, aber sicher, andere Arten seien extrem dezimiert oder bereits verschwunden. Die Sardinen und die Anchovis zum Beispiel. Kleine Fische, die großen als Nahrung dienen.

Ich fragte, wo wir stünden, das Mittelmeer betreffend. Er antwortete: »Far from normal.«

Er sprach vom Zerfall der Ökosysteme, davon, dass sich die Lage vielerorts weiterhin verschlimmere. Davon, dass wir diese Ökosysteme erhalten müssten. An etlichen Stellen allerdings würde es nicht mehr reichen, lediglich zu schützen, zu bewahren. Zahlreiche Gebiete und Arten müssten längst gezielt wieder aufgebaut, müssten regelrecht restauriert werden. »Ja, eine Sisyphusarbeit, so muss man es wohl nennen «, sagte der Doktor. »Aber möglich wäre es schon.«

Es war schon spät am Nachmittag. Ich wusste nicht, wie viel Zeit er noch hatte. Ich fragte ihn, was am Ende das Hauptproblem sei. Worauf er so schnell mit einer Aufzählung begann, dass ich kaum mitschreiben konnte.

»Die Kreuzfahrtschiffe«, sagte er, vor allem die großen. »Ein echtes Problem. Und sie werden nicht weniger, sie werden mehr. Die Megajachten, die werden auch mehr. Die Jetskis und die Sportboote. Oft braucht man am Mittelmeer nicht mal einen Führerschein dafür. Die Leute wissen nicht, was sie tun. Sie kommen scharenweise. Sie rasen, sie geben Vollgas.« Kleine Pause. »Die Geschwindigkeit«, fuhr er fort, die sei ein Problem. »Der schiere Lärm. Wissen Sie, was der anrichtet? Natürlich, der Tourismus. Die professionelle Fischerei, die Sportfischerei. Die Windparks im Meer, die wir dringend brauchen, die sind auch so eine Sache. Man muss genau wissen, wo auf dem Kontinentalschelf man sie aufstellt, wo sie sinnvoll sind oder am Ende mehr Schaden anrichten als helfen.« Was noch? Natürlich seien da noch die anderen Probleme, meinte Dr. Lloret. Der Müll, der Konsum. Die Verschmutzung, die Aquakulturen.

»Am Ende also alles?«, fragte ich.

»Wir sind viele Menschen, die das Meer nutzen und sich auf ihm bewegen«, antwortete er. »Zu viele Menschen und zu wenig Regeln.«

»Aber es würde gehen?«

»Ja, man könnte es wohl schon irgendwie hinkriegen.«

»Wie?«, fragte ich.

»Die Temperaturen!«, rief er. »Die Temperaturen habe ich noch vergessen! Wie Sie wissen, steigen sie.«

Ich schrie fast ins Handy: »Was also tun?«

»Wie ich Ihnen schon gesagt habe: gutes, kluges Management. Das geht. Man muss es nur tun. Sicher, es ist nicht einfach, aber was ist schon einfach ? Und über noch eines sollten wir uns im Klaren sein. Es geht hier natürlich ums Meer, aber am Ende geht es um uns. Wissen Sie, wenn wir so weitermachen, werden wir in fünfzig Jahren eine wirklich große Menge an Lebensqualität eingebüßt haben. Hier am Mittelmeer, überall.«

»Im Grunde wissen wir das alles.«

»Ja, wir wissen das alles. Und wir erfinden tolle Sachen. Sicher haben Sie schon mal von der Blue Economy gehört, der blauen Wirtschaft. Es geht darum, die Ressourcen der Meere zu nutzen, dabei jedoch die Ökosysteme zu erhalten und unsere Lebensgrundlagen zu sichern. Wir könnten damit Arbeitsplätze schaffen, sogar für Wachstum sorgen. Das Wort hört sich schön an. Blue Economy. Aber wir müssen aufhören, uns in die Tasche zu lügen. Wir müssen das richtig machen. Wirklich und nachhaltig. Man könnte auch sagen: ehrlich.«

Dr. Josep Lloret fragte, wie spät es sei. Er müsse los. Sorry, aber er habe noch einen Termin. Er wünschte uns noch eine gute Reise. »Passen Sie auf sich auf, und grüßen Sie mir das Meer, wenn Sie mit dem Segelboot darauf unterwegs sind.«

Nachdem wir das Gespräch beendet hatten, wirkten seine Worte noch nach. Ein bisschen wie im Kino, wenn man nach einem Film nicht sofort aufsteht, sondern noch sitzen bleibt und sich den gesamten Abspann anschaut, bis der letzte Satz von der Leinwand verschwindet und das Licht angeht.

Erst dann nimmt man seine Jacke, still und leicht benommen.

Magische Momente - wer auf dem Mittelmeer die Segel setzt, rollt sie schweren Herzens wieder ein.
Schiffsleben - Salon, Navigationsecke, Kombüse, Petroleumlampe - nirgends sonst ist es so gemütlich wie auf einem alten Segelboot.

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NOCH EINMAL PARADIES. EIN SEGELABENTEUER ZU DEN GRENZEN DER FREIHEIT - von Marc Bielefeld, erschienen am im Malik Verlag. 304 Seiten mit 16-seitigem Bildteil. 22 Euro.

Erhältlich auch im FKY-Buchshop: https://shop-fky.org

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Fotos: S. Lipsmeier/M. Bielefeld